Was heißt eigentlich „konservativ“?

Gastbeitrag von Bernd Posselt (CSU)

Viele reden von „konservativ“, ohne genauer zu wissen, was das bedeutet. Auch die Union bezeichnet man oft als konservativ, und sie selbst sagt von sich, eine konservative Wurzel zu haben. Bernd Posselt unternimmt in seinem Gastbeitrag eine dringend notwendige Positionsbestimmung.

Foto: Guillén Pérez / flickr.com / CC BY-ND 2.0Foto: Guillén Pérez / flickr.com / CC BY-ND 2.0

Derzeit wabert wieder einmal ein Begriff durch die politische Diskussion, von dem kaum jemand zu wissen scheint, was er bedeutet: „konservativ“.

In den Medien wird er zum Beispiel gerne für die stärkste Kraft im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei, und ihre Mitgliedsparteien verwendet. Doch handelt es sich bei der EVP, zu der aus Deutschland CDU und CSU gehören, um eine mehrheitlich christdemokratische Formation, mit einigen gemäßigt konservativen pro-europäischen Ergänzungen.

Die kleine, offiziell so genannte „Konservative Fraktion“ des Europaparlamentes hingegen bedient sich dieses Begriffs, umfaßt aber sehr unterschiedliche Gruppierungen. Namensgeber waren die britischen Konservativen, die, als Tories gegründet, im 19. und 20. Jahrhundert europaweit als klassische Träger des Konservatismus angesehen wurden. Eine ihrer bedeutendsten Repräsentantinnen, Margaret Thatcher, war es jedoch, die in Großbritannien die Fristenregelung bei der Abtreibung einführte, und der jüngst nach dem Brexit-Votum zurückgetretene Premierminister David Cameron von derselben Partei rühmte sich, anders als seine sozialistischen Vorgänger die so genannte Homosexuellen-Ehe durchgesetzt zu haben - beides nicht gerade Punkte, auf die Konservative in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern stolz wären.

Christentumskritisch und direkt antikirchlich ist der rechte Flügel der von Václav Klaus gegründeten tschechischen ODS um Jan Zahradil, der im Europaparlament ebenso zu dieser Fraktion zählt wie die rechtskatholische polnische Regierungspartei PiS, die das absolute Gegenteil vertritt. Dies ist der real existierende europäische „Konservatismus“, soweit er sich mit dieser Bezeichnung im Europaparlament wiederspiegelt - ein heterogenes Konglomerat, das nur durch sein Anti-Europäertum zusammengehalten wird.

Zu den wenigen ernstzunehmenden Parteien in Europa, die hervorheben, daß sie neben einer christlich-sozialen und einer liberalen Wurzel auch eine konservative besitzen, gehören CDU und CSU. Insbesondere der CDU wird aber von außen und von innen immer wieder vorgeworfen, den konservativen Teil ihres Gedankengutes, ihrer Mitglieder und ihrer Wähler zu vernachlässigen.

Konservatismus an seinem Beginn ...

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, den seit jeher in den verschiedenen Ländern, politischen Kulturen und historischen Zeitabschnitten sehr unterschiedlich definierten Begriff auf seine Substanz hin zu untersuchen. Die rein soziologische Sichtweise, die einen sterilen Strukturkonservatismus im Auge hat, der etwa auch der Sowjetunion zugeschrieben wurde, kann dabei ausgeklammert werden. Doch auch beim Wertekonservatismus stellt sich die Frage, von welchen geistigen Quellen, Ideen und Wertvorstellungen er ausgeht. Der Schweizer Armin Mohler stand etwa für einen unchristlichen bis antichristlichen Konservatismus - letztlich eine völlig sinnentleerte Konzeption, die politisch in ein bedenkliches Abseits führt.

Die bedeutendsten konservativen Denker der Neuzeit waren der irische Brite Edmund Burke mit seinen 1790 verfaßten „Betrachtungen über die Revolution in Frankreich“ sowie der Franzose François-René de Chateaubriand, dessen 1818 gegründete Zeitschrift „Le Conservateur“ der Bewegung ihren Namen gab. Bei allen Differenzen zwischen ihren Ansichten verband sie, daß sie konservatives Gedankengut, wie sie es verstanden, mit dem christlichen Glauben, einem darin wurzelnden Menschenbild einschließlich des Naturrechtsgedankens sowie einem seiner naiv-fortschrittsgläubigen Dimension entkleideten, pragmatischen Liberalismus verknüpften. Ihre Vorstellung von einer gemischten Staatsform als Garant der Freiheit orientierte sich an dem im Jahr 200 vor Christus geborenen griechisch-römischen Geschichtsschreiber Polybios, der davor warnte, daß eine absolute, also ungezügelte Demokratie nach einiger Zeit in eine Tyrannei kippe.

Damit wurden sie ebenso wie die ihnen folgenden Verfassungsväter der USA und die kontinentaleuropäischen Konstitutionalisten des 19. Jahrhunderts zu Vordenkern einer repräsentativen, parlamentarischen und rechtsstaatlich gebundenen Demokratie, die durch Elemente wie Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus und Föderalismus, wie er vor allem in Mitteleuropa Tradition hat, freiheitliche Stabilität auch generationenübergreifend zu sichern sucht. Der Jakobinismus der Französischen Revolution - den sie ablehnten, wie alle Konservativen - war in erster Linie geprägt von einer sehr radikalen direkten Demokratie, vom imperativen, nicht unabhängigen Mandat der Gewählten, die nur Vollzieher der momentanen Stimmung sein durften, und vom aggressiven Nationalismus. Wer also unser ausgeklügeltes parlamentarisches System zugunsten einer plebiszitären Emotionsdemokratie aushöhlen will, sollte sich dabei nicht auf konservatives Gedankengut berufen.

Dasselbe gilt für Verfechter eines zentralistischen Nationalstaates. Dieses jakobinische Staatsmodell wurde im Gefolge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege über ganz Europa ausgebreitet, zerstörte sowohl die abendländische Vielfalt als auch die übernationalen Strukturen, die den Kontinent wenigstens einigermaßen zusammengehalten hatten, und wirkte sich vor allem im gemischtnationalen Mitteleuropa verheerend aus. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte diese Idee eskalieren und sich in zwei Weltkriegen, so genannten „ethnischen Homogenisierungen“, willkürlichen Grenzziehungen und Vertreibungen entladen.

Genauso wenig konservativ ist die Kritik am Föderalismus, wie sie derzeit ausgerechnet in Deutschland und in Österreich, hier vor allem in Berlin und Wien, laut wird. Die historisch gewachsene Ländervielfalt des Heiligen Römischen Reiches und der Donaumonarchie war universal und europäisch orientiert, aber zugleich auch Heimat gebend. Im habsburgischen Österreich war in erster Linie der böhmisch-konservative Graf Leo Thun der Begründer der föderalistischen Bewegung. Er wollte, daß Kronländer wie das Königreich Böhmen oder das Herzogtum Steiermark als übernationale Einheiten mehr regionale Eigenständigkeit und gleichzeitig die in ihnen lebenden slawischen oder deutschen Landespatrioten mehr Rechte erhalten. Einer nationalen Neugliederung des Vielvölkerreiches erteilte er eine Absage. Im nach 1866 entstehenden Kleindeutschland waren es die süddeutschen, rheinischen, sächsischen, welfischen und auch preußischen Konservativen, die sich gegen den national denkenden „weißen Revolutionär“ Bismarck wandten und die Idee eines zu den europäischen Nachbarn geöffneten, aus sehr eigenständigen deutschen Ländern bestehenden Föderalstaates unterstützten. Daß heute ein Teil der Angriffe sowohl auf die europäische Idee als auch auf den Föderalismus von falschen Konservativen ausgeht, die unter Bismarck-Bildern stehend Interviews geben, zeigt deutlich, welcher Etikettenschwindel in diesen Kreisen im Gange ist.

... und in der Gegenwart

Auf die aktuelle Tagespolitik bezogen artikulieren sich Gruppen, die sich gerne als konservativ apostrophieren, nicht nur gegen Europa, sondern sie werfen darüber hinaus der deutschen Bundeskanzlerin vor, die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und die Kernkraftwerke abgeschaltet zu haben sowie durch zuviel Sozialpolitik gegen die Idee einer reinen Marktwirtschaft zu verstoßen.

Nichts davon wäre aber, wie behauptet, Verrat am Konservatismus. Die allgemeine Wehrpflicht war kein konservativer Gedanke, sondern entsprang der „levée en masse“ der Französischen Revolution. Ob man sie braucht oder nicht, muß Gegenstand einer sorgfältigen Abwägung zwischen möglichen militärischen Gefahren und mit der Verteidigung verbundenen Kosten sein. Ich selbst würde zwar über die Reaktivierung der allgemeinen Wehrpflicht angesichts der umfassenden Bedrohungen um Europa herum durchaus nachdenken wollen, halte dies aber für ein praktisches, nicht für ein weltanschauliches Problem. Dasselbe gilt für die Kernenergie, die in Deutschland spätestens nach der Katastrophe von Fukushima so gut wie keine Unterstützung mehr fand und in Österreich schon im Frühstadium, auch von Konservativen, gestoppt worden war. Man kann als Konservativer die Kernkraft als wirtschaftlich sinnvoll bewerten, aber auch zur Ansicht gelangen, das nicht geklärte Endlager-Problem des Atommülls sei ein Widerspruch zur Grundidee eines Edmund Burke, wonach Politik immer der Generationenkette verantwortlich ist und daher auf Nachhaltigkeit angelegt sein muß. Sollten es Deutschland und Österreich schaffen, auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien Innovationsweltmeister zu werden, entspräche gerade dies dem berühmten Satz von Franz Josef Strauß: „Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren.“

Was die Wirtschaftsordnung betrifft, so war der nackte, ungezügelte Kapitalismus ein Kind des Liberalismus, während der klassische Konservatismus stets in Kategorien sozialer Verantwortung denkt, die sowohl die Gesellschaft als auch den Staat verpflichtet. Diese Tradition reicht vom Verantwortungsbewußtsein anständiger Feudalherren über die Katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik bis hin zur mit einem großen S geschriebenen Sozialen Marktwirtschaft, wie sie Alfred Müller-Armack Mitte des 20. Jahrhunderts erdacht hat. Ihr verdanken wir unseren heutigen Wohlstand bei gleichzeitiger sozialer Stabilität - und nicht einer Marktwirtschaft ohne Attribute, wie sie der nationalistisch-liberale tschechische Ex-Präsident Václav Klaus, eines der Idole der AfD, vertritt.

Schon Alexis de Tocqueville wies in seinem 1835 erschienenen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ nach, daß echter Liberalismus auf der Basis von christlichen Wertvorstellungen besser gedeiht als ohne diese. Ähnliches sagte der christliche Sozialist und spätere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors aus Frankreich über die Sozialdemokratie. Christdemokratische und konservative Volksparteien bedürfen dieser christlichen Fundierung ganz besonders. Ihre Politik muß sich an Burkes schon erwähnter Generationenkette von Verstorbenen, Lebenden und Ungeborenen orientieren, den Menschen als Ebenbild Gottes von der Zeugung bis zum Tod in seinen unveräußerlichen Rechten schützen, natürliche Gemeinschaften wie Ehe und Familie fördern sowie anerkennen, daß die Zukunft nicht der Abschottung und dem haßerfüllten Gegeneinander gehört, sondern einem föderativen Aufbau von der Gemeinde bis zur europäischen Ebene, der sich verantwortungsbewußt in eine möglichst friedliche Gestaltung der Weltgemeinschaft einbringt.

Bernd Posselt ist Mitglied der CSU. Er war von 1994 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 1998 ist er Präsident der Paneuropa-Union Deutschland. Der Beitrag erschien zuerst auf bernd-posselt.de.

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